Operationen
des Weiterlebens
Zu 4100 Duisburg – Das letzte Jahrhundert von Laurenz Berges
04.06.2020
Zwischen Beginn der vor allem durch die Erfindung der Thomas-Verfahrens 1878 ausgelösten Stahlzeit und dem großen Strukturbruch am Ende des Nachkriegsbooms, der die heutige Wirklichkeit vieler industrieller Räume weiterhin bestimmt, liegen recht genau einhundert Jahre. Dann scheint an einigen Orten die Zeit stehen geblieben zu sein. Davon handeln Laurenz Berges' Buch 4100 Duisburg – Das letzte Jahrhundert und die gleichnamige Ausstellung im Bottroper Museum Quadrat.

Mit Fotografie des Ruhrgebiets soll oft einiges erreicht werden. Gerne stellen sich ihre Autoren ohne Not in den Dienst der wirkmächtigen übergeordneten Erzählinteressen von Metropol- und Kulturwerdung. Mit immer gleichen Mitteln und Bildern wird der hegemonialen Großfiktion vom erfolgreich gemeistertem Strukturwandel zugearbeitet. Solche Bilder gibt es zu viele. Mich interessieren Fotos, die aus intensiver eigener Betrachtung entstehen: mit behutsamer Hartnäckigkeit gefundene bildliche Verdichtungen der Dinge. 4100 Duisburg von Laurenz Berges sind solche Fotos.

Zehn Jahre lang, ungefähr von 2010 bis heute, hat sich Berges mit einem relativ kleinen Bereich der Stadt Montan befasst. Entstanden sind Bilder eines langen Moments, ohne zeitlichen Verlauf, ohne Erzählung einer Entwicklung, von reiner Gegenwart und Ver-Gegenwärtigung. Noch langsamer als seine Beobachtung ist nur die Zeit selbst an diesem Ort. Permanente Veränderung als Signet von Produktivität und Globalisierung findet hier sie nicht statt. Nichts ist neu: kein Straßenbelag, kein Haus, keine Klingel. Es sind auch keine Autos zu sehen, die eine zeitliche Einordnung zuließen. Viele werden diesen fremden Ort noch nie gesehen haben, andere ihn unmittelbar als unser Hier und Jetzt erkennen.
Es ist kein Zufall, dass dieses Hier und Jetzt aussieht, als wär es vor 30 oder 40 Jahren erstarrt: In den 1970ern bis 1990er verschwand der gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit. Die Identität der Region blieb aber an dessen ungültig gewordenen Zukunftsentwürfe angeknüpft. Es sind Strukturen langer Dauer. In metallurgischen Prozessen entstehen Schlacken: nicht weiter verwertbare Abscheidungen, mit denen trotzdem umgegangen werden muss. Diese Ausstellung zeigt die Schlackenhalden des Epochenbruchs. Das letzte Jahrhundert ist hier in seiner Permanenz zu besichtigen.


Wer wegen der Ansicht des Matena-Tunnels auf Plakat und Buchcover ein Potpourri aus Aufnahmen von lost places und imposanten Tafelbildern von Hüttenwerken und Denkmalkulissen erwartet, darf sich auf etwas gefasst machen. Nicht nur hängen weder das Titelbild noch andere übliche Motive in dieser Ausstellung. Auch ist nichts, was dort hängt, geeignet, eine positive Markenbotschaft zu vermitteln.
Wer flüchtig hinschaut, sieht vielleicht nur Behausungen der Niedergeschlagenheit. Doch Berges vermeidet alles, was Fotos solcher Orte uninteressant oder ärgerlich macht. Es gibt keine mal eben erhaschten Klischeebilder, kein verschämtes Wegschauen, Übertünchen, Verleugnen oder Entschuldigen, keine Häme, Abwertung oder Belustigung, und keine platte Symbolik, bedeutungsschwangere Aufladung oder triviales Inslichtzerren. Der Schrecken sitzt viel tiefer.
Unnachgiebig richtet Berges den Blick auf Materialität und Präsenz vergangener Zukunft, indem er verdichtende Details in einer Weise zeigt, die auf jahrelanges behutsames und reflektiertes Immernäherkommen an den Handlungsort schließen lässt, bis er sich in ihm mit respektvoller Distanzlosigkeit transparent bewegen und solche Verdichtungen erkennen kann.
Der Abstand zwischen Kamera und Motiv entspricht dem Spielraum, den der Ort noch lässt. Manchmal geht Berges so nah heran, dass Patina das ganze Bild ausfüllt. Auf einem der wenigen Übersichtsbilder öffnet sich doch etwas der Horizont. Ganz am Rand des Fotos, das ein als Verwaltung einer Maschinenfabrik genutztes und jetzt aufgegebenes Wohngebäude zeigt, an dem allein sich bereits das halbe Ruhrgebiet erzählen ließe, ist der Rhein zu sehen. Doch wie die Werksmauern und Bahndämme auf anderen Fotos grenzt er vor allem ab. Die verbliebenen Industriebetriebe mit ihren dahinter zu erahnenden Kaminen sind so unerreichbar fern wie ihre Arbeitsplätze. Mit der Lebenswirklichkeit der Menschen hier haben sie nichts zu tun. Gleichzeitig lassen sich die Bilder reicher baulicher Verzierungen aus der Gründerzeit nicht lesen, ohne immer wieder nach dem Verhältnis von Kapital zu Arbeit zu fragen.

Es wäre leicht, dieses Duisburg als romantische Zeitfalte darzustellen, in der sich von Erinnerung an ein vermeintlich besseres Früher ernährt wird. Doch in Nostalgie liegt auch die Erleichterung über ihre Überwindung, und hier ist nichts überwunden. Hier geht es um das blanke Sein. Berges gelingt es, diese existentielle Dimension ins Zentrum zu rücken, ohne seine Protagonisten weiter zu verraten.
Zu sehen sind Improvisationen, Überbrückungen, Eingriffe zur Fortsetzung des Existierens: Ein nochmal geflickter Zaun, ein eingeklemmtes Handtuch, ein Kabel, mit dem Strom aus dem Hausflur in eine Wohnung abgezweigt wird. Es sind Operationen des Weiterlebens unter dem Diktat des immer kleiner werdenden Abstands zwischen Möglichem und Wirklichem.

Vom Betrachter erfordern die Bilder ähnlich genaues Hinsehen, wie es Berges vor Ort praktiziert hat. Die Wahl zumeist mittelgroßer Formate, Hängung, herausragende Printqualität und die wie immer exzellente Ausstellungssituation im Museum Quadrat ermöglichen das. Wer sich diese Mühe macht, entdeckt auf einem Bild vielleicht die nur wenige Millimeter große Reflektion eines neonleuchtenden „Open“-Schilds in einer dunklen Fensterscheibe. 4100 Duisburg ist nicht tot, und darin liegt je nach Sichtweise die Zumutung: Die Erzählung von Strukturwandel als ein höchstens mit leichtem Ruckeln verbundenem, insgesamt aber beschaulichem Festhalten an erstrebenswerten Kontinuitäten ist so nicht nur nicht haltbar. Sie stellt sich selbst als eine Operation des Weiterlebens heraus.
Der hier stattfindende Vergleich des Abstände zwischen Fotograf und Welt und Betrachter und Fotografie führt im Idealfall also mindestens zu einer Stärkung des Bewusstseins für die Ambivalenzen der eigenen Gegenwart. Er entkräftet auch den möglichen Vorwurf, Berges habe hauptsächlich dort fotografiert, wo im Rahmen von Städtebau Abriss bevorsteht. Er nutzt die Kraft der Fotografie für eine Gegenerzählung, die so wenig nur Duisburg ist, wie Robert Adams' denver nur Denver ist. Alle Montan-Kernräume Westeuropas sehen so aus. Darin liegt das Universelle. Duisburgs Gegenstück in der Wallonie ist Seraing. Die Postleitzahl: 4100.

Ausstellung: Laurenz Berges. 4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert im Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, bis zum 28. Juni 2020.
Pressemitteilung: Pressemitteilung zur Ausstellung (PDF)
Buch: Laurenz Berges. 4100 Duisburg im Verlag der Buchhandlung Walther König, mit Texten von Heinz Liesbrock und Thomas Weski, 168 Seiten, 84 Abbildungen, Hardcover, Leinen, 48 €.
Fotos außer Ausstellungsansichten: Laurenz Berges/VG Bild-Kunst, Bonn 2020